Itinera - Übersetzung Lektion 21

Artorius lachte, während er mit der linken Hand auf Cumae zeigte, das ihnen vor Augen lag: "Es ist kaum zu glauben", sagte er, "Heute noch zeigen sie den Fremden, die diesen ehrwürdigen Ort besuchen, das Haus oder besser die Höhle jener Seherin mit Namen Sibylle. Auch ich habe, als ich noch ein kleiner Bub war, die Sibylle mit eigenen Augen gesehen: Winzigklein und verhutzelt hing sie in einer Flasche an der Wand. Uns Buben, die wir sie fragten: "Was willst du?", antwortete die Sibylle auf Griechisch: "Ich will aus dem Leben scheiden."
Aristoxenus: "Kein Wunder, daß sie genug gelebt hatte. Also ermahnte sie nicht mehr in der Höhle, ihrer eigenen Behausung, die Gesandtschaften der Völker mit ihren Orakeln, sondern baumelte still in einer Flasche an der Wand, von der Gewalt des Alters runzlig und zusammengekrümmt wie ein Horn: tausend Jahre war sie alt!"
Artorius: "Ich bin ja selber der Meinung, das eben das, was ich gerade vorgetragen habe, lächerlich ist. Aber es gibt Fälle, gibt Ereignisse, die wir mit Menschenverstand nicht erfassen können."
Gaius: "Wie kam es, daß diese Sibylle tausend Jahre lebte?"
Aristoxenus: "Sibylla war, wie die Sage berichtet, eine Seherin; sie sah durch viele Jahrhunderte das Geschick des römischen Volkes voraus und sagte es den römischen Politikern vorher; was alles des Grundes und der Vernunft entbehrt."
Artorius: "Trotzdem befragen die Caesaren auch jetzt noch die sibyllinischen Bücher über Krieg und Frieden."
Gaius: "Die Bücher der Sibylle existieren noch? Sie hat also gelebt?"
Artorius: "Man sagt, daß einst die Sibylle jene Bücher dem Tarquinius Priscus zu einem hohem Preis verkauft habe. Unsere Vorfahren bewahrten sie im Apolltempel auf und befragten sie in tiefer Frömmigkeit - und heute noch befragen unsere Politiker sie."
Aristoxenus: "Unfug! Das ist nichts als Betrug. Glaubt einem Experten!"

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